Verordnung zur Durchführung des § 72 des Bundessozialhilfegesetzes

Auf Grund des § 72 Abs. 5 des Bundessozialhilfegesetzes in der Fassung der
Bekanntmachung vom 13. Februar 1976 (Bundesgesetzbl. I S. 289, 1150) wird mit Zustimmung des Bundesrates verordnet:

Abschnitt 1: Personenkreis

§ 1 Allgemeine Abgrenzung

(1) Personen im Sinne des § 72 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes sind Hilfesuchende, deren besondere Lebensverhältnisse zu sozialen Schwierigkeiten, vor allem in der Familie, in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, führen, so daß eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft nicht möglich oder erheblich beeinträchtigt ist, und die diese Schwierigkeiten aus eigenen Kräften und Mitteln nicht überwinden können. Besondere Lebensverhältnisse im Sinne des Satzes 1 können ihre Ursache in nachteiligen äußeren Umständen oder in der Person des Hilfesuchenden haben.

(2) Besondere Lebensverhältnisse können vor allem bestehen bei

1. Personen ohne ausreichende Unterkunft (§ 2),

2. Landfahrern (§ 3),

3. Nichtseßhaften (§ 4),

4. aus Freiheitsentziehung Entlassenen (§ 5),

5. verhaltensgestörten jungen Menschen, denen Hilfe zur Erziehung oder Hilfe für junge Volljährige nicht gewährt werden kann (§ 6).

Bestehen besondere Lebensverhältnisse, wird Hilfe nur gewährt, wenn auch die sonstigen Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 erfüllt sind und § 72 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes nicht entgegensteht.

 

§ 2 Personen ohne ausreichende Unterkunft

Personen ohne ausreichende Unterkunft im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 sind Personen, die in Obdachlosen- oder sonstigen Behelfsunterkünften oder in vergleichbaren Unterkünften leben.

 

§ 3 Landfahrer

(1) Landfahrer im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 sind Personen, die im Sippen- oder Familienverband oder in sonstigen Gruppen nach besonderen, vor allem ethnisch bedingten, gemeinsamen Wertvorstellungen leben und mit einer beweglichen Unterkunft zumindest zeitweise umherziehen.

(2) Den Landfahrern stehen Personen gleich, die als frühere Landfahrer oder als deren Angehörige auf Wohnplätzen oder in für sie bestimmten Siedlungen wohnen.

 

§ 4 Nichtseßhafte

Nichtseßhafte im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 sind Personen, die ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage umherziehen oder die sich zur Vorbereitung auf eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft oder zur dauernden persönlichen Betreuung in einer Einrichtung für Nichtseßhafte aufhalten.

 

§ 5 Aus Freiheitsentziehung Entlassene

Aus Freiheitsentziehung Entlassene im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 sind Personen, die aus einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung in ungesicherte Lebensverhältnisse entlassen werden oder entlassen worden sind.

 

§ 6 Verhaltensgestörte junge Menschen

Personen im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 sind Minderjährige und junge Volljährige mit erheblichen Verhaltensstörungen, denen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch Hilfe zur Erziehung oder Hilfe für junge Volljährige nicht oder nicht mehr gewährt werden kann.

 

Abschnitt 2: Art und Umfang der Maßnahmen

§ 7 Beratung, persönliche Betreuung

(1) Zur Beratung im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes gehört es vor allem, den Hilfeempfänger über die zur überwindung seiner sozialen Schwierigkeiten in Betracht kommenden Maßnahmen zu unterrichten.

(2) Die persönliche Betreuung im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes umfaßt vor allem Maßnahmen, die darauf gerichtet sind,

1. die Ursachen der Schwierigkeiten des Hilfeempfängers festzustellen, sie ihm bewußt zu machen und auf die Inanspruchnahme der für ihn in Betracht kommenden Sozialleistungen hinzuwirken,

2. die Bereitschaft und Fähigkeit des Hilfeempfängers zu entwickeln und zu festigen, bei der überwindung seiner Schwierigkeiten nach seinen Kräften mitzuwirken und soweit wie möglich unabhängig von der Hilfe am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen.

(3) Soweit es im Einzelfall erforderlich ist, erstreckt sich die persönliche Betreuung auch darauf, in der Umgebung des Hilfeempfängers

1. Verständnis für seine Schwierigkeiten zu wecken und Vorurteilen entgegenzuwirken,

2. Einflüssen zu begegnen, die seine Bereitschaft oder Fähigkeit zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigen.

(4) Hilfeempfänger können auch in Gruppen betreut werden, wenn diese Art der Hilfegewährung besonders geeignet ist, den Erfolg der Maßnahmen herbeizuführen.

 

§ 8 Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung

Zu den Maßnahmen bei der Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes gehören auch die übernahme der Kosten für den Umzug in eine ausreichende Wohnung sowie Maßnahmen, die den Hilfeempfänger befähigen sollen, die Wohngewohnheiten seiner Umgebung anzunehmen. Kommen als Maßnahmen bei der Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes Geldleistungen in Betracht, können sie als Beihilfe oder als Darlehen gewährt werden.

 

§ 9 Erlangung und Sicherung eines Platzes im Arbeitsleben

Zu den Maßnahmen im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes gehört auch die Hilfe zur Erlangung und Sicherung eines Platzes im Arbeitsleben. Die Hilfe umfaßt vor allem Maßnahmen, die darauf gerichtet sind,

1. die Bereitschaft des Hilfeempfängers zu entwickeln und zu festigen, einer geregelten Arbeit nachzugehen und den Lebensbedarf für sich und seine Angehörigen aus regelmäßigem Erwerbseinkommen zu bestreiten,

2. einen geeigneten Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu erlangen und zu sichern,

3. dem drohenden Verlust eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes entgegenzuwirken.

Bei der Gewährung der Hilfe sollen die schulische und berufliche Bildung des Hilfeempfängers, seine besonderen Fähigkeiten und Neigungen sowie Besonderheiten, die ihm als Angehörigen einer bestimmten Personengruppe eigen sind, berücksichtigt werden.

 

§ 10 Ausbildung

Zu den Maßnahmen im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes gehören auch Hilfen,

1. die es dem Hilfeempfänger erleichtern, den Ausbildungsabschluß allgemeinbildender Schulen nachzuholen,

2. die den Hilfeempfänger zu einer Ausbildung für einen angemessenen Beruf oder für eine sonstige angemessene Tätigkeit anregen oder seine Teilnahme an ihr sichern.

 

§ 11 Hilfe zur Begegnung und zur Gestaltung der Freizeit

Zu den Maßnahmen im Sinne des § 72 Abs. 2 des Gesetzes gehört auch die Hilfe zur Begegnung und zur Gestaltung der Freizeit. Sie umfaßt vor allem Maßnahmen der persönlichen Hilfe,

1. welche die Begegnung und den Umgang des Hilfeempfängers mit anderen Personen anregen oder ermöglichen,

2. die dem Hilfeempfänger den Besuch von Einrichtungen oder Veranstaltungen der Gemeinschaft ermöglichen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen,

3. die den Hilfeempfänger zur geselligen, sportlichen oder kulturellen Betätigung anregen.

Abschnitt 3: Schlußbestimmungen

§ 12 Berlin-Klausel

Diese Verordnung gilt nach § 14 des Dritten überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 (Bundesgesetzblatt I S. 1) in Verbindung mit § 152 des Bundessozialhilfegesetzes auch im Land Berlin.

 

§ 13 Inkrafttreten

Diese Verordnung tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.